Das Konzept Warten-Warten
„Sie sind heute in einer schlechteren Verfassung als noch vor zehn Jahren“, meint meine Kollegin, als wir uns über die Bewohnern im Heim unterhalten. „Heute sind sie wirklich deutlich pflegebedürftiger. Vor zehn Jahren waren sie noch etwas selbstständiger.“ Ich habe nicht diesen Vergleich, da ich noch nicht so lange mit alten Menschen arbeite. Doch was […]
Ein fester Punkt in einer sich auflösenden Welt
Herr U. zieht mit dem Rollator von Frau K. davon. Gemächlich schreitet er aus und verschwindet langsam im Gang. Herr U. ist hochgradig dement. Und wie viele in seinem Zustand ist er in ständiger Unruhe. Noch vergleichsweise mobil läuft er Tag und Nacht durch die Gänge, öffnet die Zimmer, schiebt Stühle von einem Ort zum […]
Der tote Vater von Frau A.
Was Frau A. als Kind erlebte hat sie nicht als Deutsche erlebt, an der Rache geübt wurde, nicht als Christin, deren Vater von Ungläubigen ermordet wurde. Sie hat es als Kind erlebt. Sie war groß genug für das Schreckliche, aber zu klein für die Verrechnung der Schuld.
Frau T. nimmt sich die Sache zu Herzen
Frau T., 87, nimmt sich die Sache zu Herzen. Sie ist im Seniorenheim, weil sie körperlich nicht mehr die Kraft hatte, sich in ihrem Haushalt zu versorgen. In Kopf und Herzen ist sie klar und gegenwärtig. Die Gegenwart macht ihr zu schaffen.
Pflegenotstandsblase
Pflege ist auf Kante genäht, finanziell, politisch, aber vor allem in Hinsicht auf den Rückhalt in der Bevölkerung; man kann wohl kaum von seinem Volksvertreter politische Lösungen erwarten, wenn man sich gleichzeitig entrüstet, so viel Kohle für einen Pflegeheimplatz abdrücken zu müssen. Pflege und Begleitung von Senioren, insbesondere hochaltriger kostet nun mal, weil sie ein äußerst hohes Maß an Professionalität bedürfen. Wer nur Twingo bezahlen will, darf keinen Maserati erwarten.
Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
Herr S. hat überhaupt keinen Tag- und Nachtrhythmus. Das ist typisch für Demenz. Alle Strukturen, auch die elementarsten gehen verloren. Stattdessen ein unerhörter Drang zu laufen. Herr S. ist Tag und Nacht on tour, wohin, weiß er nicht. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers.
Der seltsame Fall des Benjamin Button
Die alte Dame bewegt sich zurück. Sie liegt auf der Seite, ein klein gewordener Körper, beinahe in Fötushaltung. Sie versteht kaum mehr, was sich um ihr Bett herum ereignet. Man hat nicht den Eindruck, einem greisen Menschen zu begegnen, sondern einem Kind. Die alte Dame kehrt im Alter zurück wie Benjamin Button, in die Kindheit und früher – und noch früher.
Zen-Meister
Wir sind alle etwas müde. Im Focus stellen sie fest, dass das am Wetter liegt. Da könnte diesmal sogar was dran sein. Herr F. achtet ebenfalls aufs Wetter. Er ist sogar ein ziemlich genauer Beobachter. Täglich vermerkt er die Bewegung der Blätter in den Bäumen auf der Wiese. Nicht als meteorologische Feststellung, sondern als bedeutsame Erfahrung. Die Veränderung des Windes beim Anblick der Blätter ist seine höchstpersönliche Zen-Meditation.
Altlastgefühl
Die Kollegin kommt mir entgegen mit deutlich erkennbaren Augenringen. Erkältungswelle, Unterbesetzung. Der trübselige Refrain des Pflegenotstands. Im Pflege- und im Betreuungsbereich muss man halt einstecken können. Schließlich kann man nicht mal schnell eine lapidare Meldung rausschicken, dass wegen krankheitsbedingten Personalausfällen die Bahnen nicht fahren.
Über die Notwendigkeit, sich zurückzuziehen
Reifen braucht Rückzug. Jede Stufe des Lebens bedarf der Reflexion und der Besinnung. Das gilt insbesondere für die letzte Lebensphase. Im Alter wird das Reifen abgeschlossen, nicht eingestellt. Doch soziale Normen und Ideologien lehnen Reflexion und Rückzug ab, weil sie dem Muster von Leistung, Aktivität und Effektivität widersprechen. Ist dies der Grund, warum wir das Altwerden ablehnen, warum wir uns aber auch insgesamt mit Menschen schwer tun, die sich in einer kritischen Lebensphase befinden?