Der tote Vater von Frau A.
Als die Terroristen oder Soldaten oder Kämpfer oder wie man sie immer nennen will, in ihren Ort kamen, befahl der Vater ihr, sie solle sich hinter der Uhr, die so groß war wie ein Schrank verstecken und keinen Laut von sich geben. Dann kamen die Wie-auch-immer-man-sie-nennen-will, entführten den Vater und erschossen ihn. Ihn und viele andere, die sie an diesem Tag ergreifen konnten.
Frau A. ist Deutsche. Ukrainendeutsche. Sie verbrachte dort ihre Kindheit. Die Deutschstämmigen bewirtschafteten Felder und bauten Wein an. „Das Land ist schön und sehr fruchtbar“, erklärt mir Frau A. Die Ukrainendeutschen sprachen Deutsch in einem eigenen Dialekt und waren fromme Leute.
Nach dem Weltkrieg war das Frommsein bei Todesstrafe verboten. Das Deutschsein auch. Frau A. erzählte, sie hätten trotzdem heimlich im Verborgenen gebetet. Irgendjemand hat sie aber doch dabei erwischt und denunziert. Dann überfielen die Sowjets oder die Russen ihren Ort. Manchmal bezeichnet sie sie so, manchmal so, auf jeden Fall waren es Männer, die nach Feinden suchten. Und sie fanden sie unter den betenden Deutschstämmigen. Beides war ja todeswürdig, Herkunft und Glaube. Die Männer hatten in jedem Fall einen Grund, den Vater von Frau A. umzubringen. Frau A. kam mit dem Leben davon und floh.
Über das, was die Kinder von Flüchtlingsfamilien erlebt haben, wird nicht viel gesprochen. Jedenfalls nicht in der breiten Öffentlichkeit. Vermutlich weil die Deutschen Russen, Polen oder Tschechen so viel Schreckliches angetan haben. Ganz zu Schweigen ihren eigenen Landsleuten. Beklagte man das Schicksal von Frau A., droht einem die Anklage, man habe viel Schlimmeres über die Welt gebracht.
Was Frau A. als Kind erlebte, hat sie nicht als Deutsche erlebt, an der Rache geübt wurde, nicht als Christin, deren Vater von Ungläubigen ermordet wurde. Sie hat es als Kind erlebt. Sie war groß genug für das Schreckliche, aber zu klein für die Verrechnung der Schuld.
Jede, die jetzt und angesichts der unbeschreiblichen Taten der Hamas für Palästinas Freiheit einsteht, sollte sich in ein Kind hineinversetzen, das diese Taten erlebt. Jeder, der den Worten Netanyahus zustimmt, es würde nun in einem Ausmaß zurückgeschlagen werden, „das der Feind noch nicht erlebt hat“, sollte sich dieses Ausmaß vorstellen, wie Frau A. das Ausmaß jener Racheaktion erlebte, das ihr den Vater genommen hat.
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Info: house of the one