Altlastgefühl
Die Kollegin kommt mir entgegen mit deutlich erkennbaren Augenringen. Ich frage sie, wie es ihr geht, obwohl ich mir die Antwort vorstellen kann.
Erkältungswelle, Unterbesetzung. Der trübselige Refrain des Pflegenotstands. Im Pflege- und im Betreuungsbereich muss man halt einstecken können.
Schließlich kann man nicht mal schnell den AB einschalten, wenn es zu viel wird oder eine lapidare Meldung rausschicken, dass wegen krankheitsbedingten Personalausfällen die Bahnen nicht fahren.
Wir versuchen – Augenringe hin oder her – es die Bewohner nicht spüren zu lassen. Sie sollen nicht das Gefühl bekommen, neben ihrer Versehrtheit auch noch wie eine Altlast gehandelt zu werden. Denn auch wenn es medial so verbreitet wird, es trifft nicht zu.
Aber was kann ich tun, damit die Spannung ausgehalten werden kann? Ich schlage vor, am nächsten Tag, es ist ein Sonntag, einen Gottesdienst zu gestalten. Nicht wegen der dämpfenden Wirkung der Religion. Sondern ganz konkret, weil ein Gottesdienst eine Unterbrechung ist, ein spirituelles Durchschnaufen.
Selbst wenn man die Kraft, die hinter dem Gottesdienst steht, nicht erkennen kann (oder will), schon der Zeitpunkt des Gottesdienstes hat eine stabilisierende Wirkung. In der Zeit von 10:00 bis 10:30 Uhr geht es nicht um den Pflegealltag, seine Herausforderungen und die Frage, ob man sie bewältigt oder nicht. Für meine Kolleginnen und Kollegen ist es eine Verschnaufpause. Und viele Bewohnerinnen und Bewohner nehmen das Angebot gerne an, auch wenn sie bislang noch nicht oft Berührung mit dem Spirituellen hatten.
Ich denke, das tun sie, weil Gottesdienst ihnen Gemeinschaft vermittelt und einem für einen Moment das Gefühl gibt, dass es völlig in Ordnung ist, mühselig und beladen zu sein.
Herr
unbekannt sind mir die letzten Stufen
die ich gehen soll
an deiner Hand?
an keines Hand?
nun habe ich
jede Schwelle überschritten
das helle Land liegt zurück
zurück die dunklen Felder, Täler
nur dein Gotteshimmel hebt den Blick
ich sehe in dein wolkenschweres Trostgesicht
noch einmal sprich zu mir
und auch wenn ich keine Antwort mehr habe
so will ich hören
dich
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Bild: unsplash Adrian Swancar