Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Frau K. steht im Flur und brabbelt munter. Die Kollegin hat sie bereits zweimal in ihr Zimmer begleitet, um sie für den Abend fertig zu machen. Keine zwei Minuten später steht sie wieder im Aufenthaltsraum. Irgendetwas sucht sie, irgendetwas hat sie, das sie in Bewegung hält. 

Unterdessen kutschiert Herr S. mit dem Rollator eines Mitbewohners durch das Obergeschoss. Er schiebt die Stühle im Gang zu Abteilen. Herr S. hat überhaupt keinen Tag- und Nachtrhythmus. Das ist typisch für Demenz. Alle Strukturen, auch die elementarsten gehen verloren.  Stattdessen ein unerhörter Drang zu laufen. Herr S.  ist Tag und Nacht on tour, wohin, weiß er nicht. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers. Wir haben uns überlegt,  Gegenstände für ihn auszulegen, die er einsammeln und in seinen (oder eines anderen) Rollator ablegen kann. Das macht er gerne. Das Sammeln, das Stühlerücken, das Laufen, all das bedeutet etwas für ihn oder ist vielmehr das Symbol einer Bedeutung, die er vergessen hat.

Frau K., ihren vier Wänden abermals entwichen, versucht mit Herrn S. zu plaudern, aber der läuft an ihr vorbei, langsam, gravitätisch, biegt links ab in ihr Zimmer. Sie kommentiert das gutgelaunt in ihrer eigenen Sprache. 

Unterdessen trifft der kleine Herr F. wieder im Aufenthaltsraum ein. Er ist mitten im Abendessen aufgestanden und losgezogen. Mit Mahlzeiten kann er nichts mehr anfangen. Essen und Trinken sind Ereignisse, unvermittelt und zufällig. Er läuft, schlummert, snackt zwischendurch eine Kleinigkeit und macht sich wieder auf den Weg. Dementielle Menschen mit Bewegungsdrang verbrauchen zwei- bis dreimal soviel Kalorien wie ein Erwachsener. 

Das unaufhörliche Laufen –  für was steht es? Dass der Mensch ein Bewegungstier ist und diese evolutionäre Bestimmung sich noch zeigt, wenn alles andere vom lautlosen Sturm des Vergessens fortgetragen ist? Dass es noch einen Ort gibt, unbekannt, aber den man unbedingt aufsuchen muss? Oder das Gegenteil, eine letzte Fluchtbewegung wie Süskinds Geschichte vom Herrn Sommer? Auf jeden Fall macht es auf einen Irrtum aufmerksam: Am Ende steht nicht Stasis,  Bewegungslosigkeit, das Harren auf die letzte Kutsche vor dem Abgrund (F. Pessoa). Es ist das Laufen, Wandern, Staksen, Humpeln, Zuckeln. Erst, wenn der letzte Ausrutscher einen Oberschenkelhalsbruch nach sich zieht,  kommt die Bewegung zum Erliegen, wenn auch nicht der Anlass dazu.

Bild: pixabay jplenio

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