Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
Herr S. hat überhaupt keinen Tag- und Nachtrhythmus. Das ist typisch für Demenz. Alle Strukturen, auch die elementarsten gehen verloren. Stattdessen ein unerhörter Drang zu laufen. Herr S. ist Tag und Nacht on tour, wohin, weiß er nicht. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers.
Der seltsame Fall des Benjamin Button
Die alte Dame bewegt sich zurück. Sie liegt auf der Seite, ein klein gewordener Körper, beinahe in Fötushaltung. Sie versteht kaum mehr, was sich um ihr Bett herum ereignet. Man hat nicht den Eindruck, einem greisen Menschen zu begegnen, sondern einem Kind. Die alte Dame kehrt im Alter zurück wie Benjamin Button, in die Kindheit und früher – und noch früher.
Zen-Meister
Wir sind alle etwas müde. Im Focus stellen sie fest, dass das am Wetter liegt. Da könnte diesmal sogar was dran sein. Herr F. achtet ebenfalls aufs Wetter. Er ist sogar ein ziemlich genauer Beobachter. Täglich vermerkt er die Bewegung der Blätter in den Bäumen auf der Wiese. Nicht als meteorologische Feststellung, sondern als bedeutsame Erfahrung. Die Veränderung des Windes beim Anblick der Blätter ist seine höchstpersönliche Zen-Meditation.
Alter akut
Altersstarrsinn ist die Interpretation der Umtriebigen, derer, die im Vollbesitz ihrer Kräfte noch alles können. Was von uns Umtriebigen verlangt wird, sind Flexibilität, Apps, Homeoffice und Coffee-to-Go. Das geht so lange wie die Kräfte reichen
Spiegelbilder
„Wir werden alt in der Weise, wie wir gelebt haben“, behauptet meine Kollegin Dobra. „Unser Leben ist nie nur unser Leben, sondern es ist immer auch ein Spiegelbild der Leben unserer Eltern und Großeltern und deren Eltern. Gerade das ist es, das man merkt, wenn man älter wird.
Frau K. ist gestorben
Frau K. ist gestorben. Nach dem Unfall kam ihr Lebenswille nicht wieder. Das ist häufig so. Ein Unfall, dann Krankenhaus, dann die letzten Schritte. Als ob der alte Mensch verstanden hat, dass es nun an der Zeit ist. Der Wille zu Leben sagt genauso viel von der Persönlichkeit eines Menschen wie der, vom Leben Abschied zu nehmen.
Musik rettet
Es ist durch die Coronakrise nicht ganz leicht, die Bewohner wieder zusammenzubringen. Die Hygienevorschriften haben uns alle gründlich entsozialisiert. Kollateralschaden halt.
Doppeltgewicht
Ich wusste, es würde eine ziemliche Herausforderung, noch einmal etwas von Anfang an zu lernen. Ich ziehe mir morgens meine Seniorenheim-Unisex-Arbeitskleidung über, in der wir alle irgendwie aussehen wie Playmobilmännchen.
Aufbruch
Man kann auf zwei Arten zu einer Reise aufbrechen. Einmal indem man sich, den Horizont ins Auge fassend, auf die Reise zu neuen Orten begibt. Und zum anderen indem man einen Ort verlässt, an dem man nicht mehr sein kann.
Die erste Art, sich auf eine Reise zu begeben, ist die bessere. Denn bei der zweiten ersetzen die Umstände die Entscheidung, sich auf den Weg zu machen. Oder anders ausgedrückt: Die erste Art ist deshalb die bessere, weil ohne diese Entscheidung eine Reise keine Reise ist, sondern eine Flucht.