Spiegelbilder

„Wir werden alt in der Weise, wie wir gelebt haben“, behauptet meine Kollegin Dobra. „Unser Leben  ist nie nur unser Leben, sondern  es ist immer auch ein Spiegelbild der Leben unserer Eltern und Großeltern und deren Eltern. Gerade das ist es, was man merkt, wenn man älter wird. Und gerade deshalb ist es so wichtig,  voneinander zu wissen.“ Da ist etwas dran. Jörg Zink schrieb, im Erzählen der eigenen Geschichte knüpft man sich ein in das Leben der Vorfahren und das der Nachfolgenden (Die Stille der Zeit, 2012).

Diese Gesetzmäßigkeit, so fährt er fort, wurde allerdings für ihn und seine Altersgenossen durch Krieg und Diktatur gebrochen. Er erinnert sich, dass er und seine Altersgenossen sich wiederfanden in einem totalen Staat, seinen Verbrechen, seinem Schrecken. Sie waren in ihn verstrickt, ob sie wollten oder nicht und ob sie den Erfahrungen gewachsen waren oder nicht. So verschlossen sich die jungen Männer und Familienväter, erzählten nichts ihren Frauen und Kindern und hießen sie schweigen. Aber Väter, Eltern und Großeltern, von denen die Kinder und Enkel nichts wissen, werden nicht nur unbekannt, sie werden entbehrlich und am Ende lästig. Denn was verschwiegen wird, kann nicht heilen. Was nicht erzählt wird, kann nicht gedeutet werden (vgl. Die Stille der Zeit, S. 87).

Es stimmt, unsere Bewohnerinnen und Bewohner – sie haben als Kinder und junge Erwachsenen den Krieg erlebt –  erzählen nur sehr zurückhaltend von dem, was sie im Krieg erfahren mussten.  Aber wenn sie darüber erzählen, bin ich jedesmal tief bewegt. Was diese Menschen erlebten und aushalten mussten, ist kaum zu fassen.

Ein Bewohner erzählte, dass sie als Kinder die Gewohnheit hatten, sich halb angezogen und mit einem Koffer neben dem Bett, schlafen zu legen, um bei Fliegeralarm nur schnell genug in den Keller rennen zu können; bei dieser Geschichte ist es unmöglich, nicht an die Luftangriffe in der Ukraine zu denken. „Nie wieder!“, sagt Herr M., der sich an den Schrecken der Sirenen 70 Jahre später deutlicher erinnert als an den Flurgang, in dem sich sein Zimmer befindet. Das ist kein Ostermarsch-Nie-Wieder, über das man den realpolitischen Kopf schütteln könnte. Das ist ein erlebtes Nie-wieder und das hat ein ganz anderes Gewicht. 

Illustration: Edgar Ende: Das Fensterkreuz, 1953

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert