Für Hoffnung ist man nie zu alt

Die drei Senioren von Bethlehem

Hirten, Könige, Kamele und natürlich die Heilige Familie. Das Bühnenvolk des Evangelisten Lukas ist wohlbekannt. Doch gab es zweifellos viele weitere Mitspieler, die in seiner Weihnachtsgeschichte eine Rolle spielten oder eine Rolle gespielt haben könnten. Wir lassen der Fantasie freien Lauf und stellen uns vor, was wohl in drei Senioren vorgegangen ist, die am 24.12. des Jahres Null dem Geschehen in Bethlehem beiwohnten: Josele, Naomi und Avigdor sitzen jeder in eine Decke gehüllt auf einer Holzbank an der Dorfstraße und schauen dem hektischen Treiben in Bethlehem zu.

Josele: Wie ungemütlich es heute ist. Ungemütliche Aufregung und ungemütlich kalt obendrein. Eine Unverschämtheit!

Avigdor: Besonders für die armen Leutchen. Sausen durch unser Städtchen, lassen sich zählen und suchen nach einer Möglichkeit, eine Unterkunft zu bekommen. Unser Haus ist bis unters Dach vollgestopft mit Verwandten.

Naomi: Es ist doch schön, wenn die Familie um einen ist. Hast du nicht immer gesagt, du würdest sie alle gerne mal wieder sehen?

Avigdor: Aber doch nicht alle auf einmal! Es ist kein Platz mehr bei uns oder glaubst du, ich sitze zu meinem Vergnügen hier draußen an der Straße?

Naomi: Bekommt einer seinen Wunsch erfüllt, ist er auch nicht glücklich …

Josele: Warum ist hier eigentlich solch ein grauslicher Betrieb? Ich habe es immer noch nicht verstanden, weshalb so viel los ist.

Naomi: Das ist wegen der Bürokratie! Der hohe Herr Augustus in Rom hat angeordnet, dass alle Leute aus steuerrechtlichen Gründen gezählt werden sollen. Jeder kehrt an seinen Geburtsort zurück, um sich dort in eine Liste eintragen zu lassen. Alle, die ihre Familie hier haben, kommen deshalb wieder.

Avigdor: Ich habe Levi Goldstein mit seiner dicken Frau Schula gesehen und Ruben Rosenblum mit seinen krakeelenden Kindern im Schlepptau. Sie kreischen alle genauso wie Ruben als Kind geschrien hat. Alle sieben, ist das zu fassen?

Naomi: Sieben? Dann hat er immerhin noch etwas anderes zustande gebracht, als den ganzen Tag herumzuschreien.

Josele: Da ist Benjamin Freudenreich, Saul Blumenthal, auch mit Kind und Kegel und sehe ich da nicht Abigail und Jeremias Seligmann? Himmel noch eins, sie haben sogar ihre Ziege dabei!

Avigdor: Dahinten am Ende der Straße kommen zwei mit einem Esel daher. Ich kann sie nicht erkennen. Naomi, du hast die besseren Augen, wer ist das?

Naomi: Das ist Josef Jakobsohn. Der ist nach Norden gezogen, nach Nazareth glaube ich. Und jetzt kommt er wieder mit einer Frau und einem Esel. Oh! Die Allerärmsten, sie kriegen ein Baby. Das junge Ding hat einen Bauch so dick wie ein Heuballen.

Avigdor: O weh! Das ist keine gute Zeit, um ein Baby zu bekommen.

Josele: Es ist auch keine gute Zeit, um alt zu sein. Ich will in meiner Stube sitzen, bei einem gemütlichen Feuerchen ohne dass die ganze Mischpoche in den Ecken hockt, samt ihrer Esel, Ziegen und was sie sonst noch anschleppen.

Naomi: Sei still Josele! Wie kannst du nur so garstig zu den jungen Leuten sein? Hab Erbarmen!

Avigdor: Mitleid hin, Mitleid her. Die Jakobsohns werden auf keinen Fall einen Ort zum Übernachten finden. Die Stadt ist überfüllt. Elia, der Wirt sagt, dass er den Leuten sogar Plätze in seinen Ställen anbieten muss, weil er sonst keine Herberge mehr hat. Da schaut! Josef klopft an die Tür des Wirtshauses. Armer Bursche, das wird nichts werden.

Josele: Ich weiß, dass Elia hinter der Stadt einen Stall hat. Das ist bei den Schafhürden, wo die Hirten die Nacht verbringen. Warum sollen sie nicht dorthin gehen? Immerhin ist es warm dort.

Naomi: Josele! Wenn du mein Mann wärest – Gott hab ihn selig! – würde ich mit dem Topf nach dir werfen, so ein grausamer Mensch bist du! Die junge Frau ist schwanger. Soll sie das Kind in einem Stall zwischen Schafen und Ochsen und Eseln bekommen? Sollen sie es in die Futterkrippe legen?

Josele: Da habe ich noch mal Glück gehabt, dass ich dich nicht geheiratet habe. Das ganze Geschirr, das ich hätte ständig kaufen müssen… Aber ich meine es durchaus ernst. Du hast doch gehört, was Avigdor gesagt hat, alles ist überfüllt. Ein warmer Stall ist besser als draußen auf der Straße unter freiem Himmel.

Avigdor (zeigt nach oben): Eine wirklich erstaunlich klare Nacht. Die Sterne sind wunderschön. Besonders dieser eine große genau über uns.

Josele: Eine klare Nacht bedeutet eine kalte Nacht. Ich sage, es ist besser, wenn sie in den Stall gingen als nirgendwohin. Oder hat jemand eine bessere Idee?

Avigdor: Seht! Wie ich es gesagt habe. Kein Platz ist in der Herberge. Mit hängendem Kopf geht Josef Jakobsohn davon. Und Recht hast du, Josele! Sie nehmen den Weg zu den Schafhürden.

Naomi: Josele, Josele! Vielleicht bist doch nicht so ein alter, begriffsstutziger, grantiger Kater. Es ist tatsächlich etwas dran an deiner Idee. Im Stall ist es wärmer als auf der Straße. Doch sage ich euch, so können wir sie nicht gehen lassen.

Josele: Ich wüsste nicht, was wir tun könnten? Wir sind alt. Das Beste, was wir machen können, ist den Jungen nicht im Weg zu stehen. Siehst du nicht, was die Bürokratie aus unserem kleinen Bethlehem gemacht hat? Ein riesiges Durcheinander. Und worauf nimmt die Bürokratie am wenigsten Rücksicht? Auf uns Alte.

Naomi: Und auf die Kinder. Da lässt dieser Herr Augustus Kinder und Schwangere umherziehen als wäre das Wichtigste auf der Welt, dass seine Anordnungen durchgesetzt werden.

Avigdor: Was die hohen Herren sagen, ist nun mal das Wichtigste.

Naomi: Das Wichtigste kann auch unfassbar dumm und rücksichtslos sein. Aber ihr seid Männer. Was wisst ihr schon! Ich sage euch noch einmal, so können wir diese kleine Familie nicht gehen lassen. Die Frau bekommt ihr Kind. Wenn sie es schon in eine Futterkrippe legen muss, dann in ordentlich, saubere Windeln gewickelt. Und Decken brauchen sie gegen die Kälte. Du hast eine sehr schöne, Josele, die kannst du ihnen bringen.

Josele: Meine Decke? Was erlaubst du dir? Wenn ich die weggebe, habe ich nur noch zwei.

Naomi: Ach, gehörst du auch zu denen, die sagen: Gute Ideen habe ich genug, aber machen sollen es die anderen? Typisch Mann! Nichts da! Ich hole die Windeln. Ihr beide schnappt euch eure Decken und wir bringen sie den jungen Leuten in den Stall.

Avigdor: Wie? Wir bringen sie den jungen Leuten in den Stall. Wie sollen wir das machen? Zu Fuß?

Naomi: Stell dich nicht so an, Avigdor! Du hast einen kräftigen Spazierstock und ich habe eine ausgezeichnete Salbe, wenn dir die Gelenke schmerzen sollten.

Avigdor: Es gibt bald Abendessen.

Naomi: Sehr gut! Dann kannst du gleich Brot, Käse und Datteln einpacken. Und vielleicht noch einen Krug Wein.

Avigdor: Beim allerheiligsten Tempel! So kannst du aber nicht mir umspringen!

Josele: Lass gut sein, Avigdor! Naomi hat Haare auf den Zähnen, aber das Herz am rechten Fleck. Was brauch ich drei Decken und dir tut ein bisschen Bewegung gut. Es ist nur richtig, dass eine Person in diesem bürokratischen Irrsinn Vernunft behält.

Naomi: Da will ich dir nicht widersprechen, Josele. Und noch etwas sage ich euch: Ich bin eine Frau, eine Mutter und eine Großmutter. Eins weiß ich, jedes Kind, das geboren wird, ist nicht ein Mensch mehr, den man zählen kann. Sondern ein Schimmer Hoffnung in dieser dunklen Welt. Wer kann sagen, was Josef Jakobsohns Kind verheißt? Aber es macht mir schon jetzt Hoffnung. Wehe dem, der glaubt, er sei für die Hoffnung zu alt! Ich bin’s nicht. Ich gehe jetzt Windeln holen.

Josele: Sie hat Haare auf den Zähnen, Avigdor, sie hat Haare auf den Zähnen.

Avigdor: Hoffnung in dieser dunklen Welt… dunkel ist sie, das ist wahr. Aber einen schönen Himmel haben wir heute. Voller Sterne. Besonders der eine große genau über uns. Es ist schon richtig, für die Hoffnung ist man nie zu alt.

Ev. Gemeindeblatt 52/53 2023: Teil 1 EG_GES_52_34 Teil 2 EG_GES_52_35

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