Stufen oder sich mit dem Leben aussöhnen

Stufen des Lebens

Jede Stufe des Lebens, das fanden Joan und Erik Erikson heraus, stellt uns vor eine (im wörtlichen Sinne) Krise, vor eine Entscheidung. Diese Entscheidungen stellen sich für jeden Menschen gleichermaßen und sind Teil des natürlichen Reifens. Jedem Menschen stehen solche Reifekrisen bevor, er bewältigt sie oder er geht daran fehl. 

Als Kinder vollziehen wir diese Entscheidungen impulsiv und so  eingebettet in unsere frühen Beziehungen, dass man sagen kann, Reifen und Scheitern ergeben sich unmittelbar aus diesen Beziehungen. Doch je älter wir werden, desto bewusster erleben wir Veränderungen. Wir erleben das Reifen, das Wachsen und das Nicht-Gelingen des Reifens bewusst als Teil unserer selbst. Wir erfahren uns als jemand, von dem aufrichtige Rechenschaft verlangt wird (etwa wenn wir selbst zu Vätern und Müttern werden). Diese aufrichtige Rechenschaft selbst ist Teil der Lebensstufen und auch hier gilt,  es gelingt, sich diese Rechenschaft zu geben oder man scheitert daran.

Integritätsdruck

Diesem Entweder-Oder kann man sich freilich entziehen.  Man kann ihm ausweichen und für eine gewisse Zeit funktioniert das auch; tatsächlich klappt das Meiden des Sich-Rechenschaftgebens umso besser, je mehr Möglichkeiten man im Leben zu haben vermeint; Krise hat ja deswegen eine negative Konnotation, weil sie einen in eine Lage bringt, in der man nicht ausweichen kann, sondern sich entscheiden muss. Ich vermute, dies ist ein Grund, warum wir Altern negativ wahrnehmen. Das Altern stellt einen  unmissverständlich vor die Aufgabe, sein Leben zusammenzufassen, um sich mit ihm auszusöhnen. Bin ich mit mir im Reinen? Kann ich mit mir ins Reine kommen? Aufrichtig und wahrhaftig? Joan und Erik Erikson fassen dies zusammen in dem Begriff Integrität. Jede Lebensstufe verlangt nach dieser Integrität. Im Alter indes ist der Integritätsdruck substantiell (vgl. E.H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1981, S.118). 

Sich mit dem alten Menschen beschäftigen

Sich mit dem alten Menschen zu beschäftigen, heißt, sich mit dem seiner Möglichkeiten und Kräfte – und auch des seiner sichtbar kraftvollen Gestalt – beraubten Menschen zu beschäftigen: Dem Menschen an sich. Oder wie Ingrid Riedel es ausdrückt: „Hinter der Würdigung des Alters und der Alten steht letztlich auch die Frage nach dem Lebenssinn und Lebensweisheit und danach, was es heißt, Mensch zu sein.“ (I. Riedel, in: H. Jirku, Transzendenz und Spiritualität im Alter Gerotranszendenz, Master Thesis Gerontologie und soziale Innovation, Wien 2017, S. 29)

Spirituelle Begleitung

Ich bin der Überzeugung, dass die spirituelle Begleitung auf dieser Stufe des Lebens eine wesentliche Bedeutung einnimmt. Um zu dieser Einschätzung zu kommen, muss man kein religiöser Mensch sein. Der Begriff „Gerotranszendenz“ des schwedischen Sozialpsychologen Lars Tornstam verweist , die Arbeit Joan und Erik Eriksons weiterführend, auf die Rolle der Spiritualität.  

Spiritualität hier geht über die religiöse Spiritualität hinaus. Sie meint eine umfassende Verbundenheit, der die Bejahung  des eigenen Lebens vorangegangen ist. Sie „bedeutet die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mußten (sic) und durch keine anderen ersetzt werden können. Er bedeutet … die Bejahung der Tatsache, dass man für das Leben allein verantwortlich ist. Es enthält ein Gefühl von Kameradschaft zu den Männern und Frauen ferner Zeiten und Lebensformen, die Ordnungen und Dinge vermehrt haben, welche die menschliche Würde und Liebe vermehrt haben.“ (E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/ M. 1966, S. 118f).

 

Fazit:

Reifekrisen kennzeichnen das Leben. Sie fordern auf jeder Stufe ein Sich-Rechenschaft-Ablegen. Dieses Rechenschaft-Ablegen ist Teil des Reifens und wird besonders im Alter gefordert, ja, hier ist es unausweichlich – das Alter fragt unausweichlich nach dem Menschen, der ich bin und ob ich Versöhnung finde mit dem Menschen, der ich war. Die Frage führt den Menschen auf die letzte und – nicht im hierarchischen, sondern im Sinne der Vollendung – höchste Stufe des Reifens, der Gerotranszendenz. Auf dieser Stufe wird Spiritualität wirksam. Spiritualität im weiten, nicht nur im religiösen Sinne als einer Begleitung, die auf Versöhnung, Verbundenheit und Bejahung zielt.

Bild: pixabay

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