Sein, nicht tun, nicht haben

Ich las einen Beitrag in der Süddeutschen über Einsamkeit. Eine 82jährige Berlinerin, rüstig, bewegt, umtriebig schreibt über ihre Einsamkeit. Keine drei Freunde mehr würde sie an ihren Tisch zusammenbringen, alles weggestorben, weggezogen, weg. Sie ist noch ordentlich auf den Beinen, Telefonseelsorge, Museen, Exerzitien. Nur halt einsam. Besonders furchtbar war die Coronazeit. 14 Tage am Stück schwieg sie. Unerträglich. Im Bus sieht sie die Berliner Weihnachtsbeleuchtung an sich vorbeiziehen; die Berliner sind geradezu angelsächsisch unterwegs, was Lichterglanz betrifft. Es könnte einen amüsieren, doch der ganze glitzernde Wahnwitz rührt sie zu Tränen. Denn Weihnachten und Sylvester sind die einsamen Zeiten im Land. 

Eine tolle Frau. 82. Sie hat viel erlebt, manches ertragen und ist auch jetzt noch engagiert. Und doch die Klage. Die Klage über die Einsamkeit. Es ist gut, dass darüber gesprochen wird, dass sie darüber spricht. Die Einsamkeit ist die stumme Katastrophe im Land.  Und doch, und doch da ist noch etwas anderes. Sie erzählt, was sie so alles getan, was sie erreicht hat. Shoppen mit Leonard Bernstein, ihr Mann Architekt, beide kunst- und kulturbeflissen, nicht zu vergessen ihre berühmten Weihnachtsdiners. Eine Salonnière mit Herz. Sie ist ein Schatz. Jetzt aber empfindet sie vor allem das Gefühl des Verlustes ; nicht mal mehr drei Freunde am Tisch. Das ist erschütternd.

Sie zitiert Fritz J. Raddatz: „Ich habe mein Leben gelebt. Ich habe es ausgelebt, leer gelebt. Mein Lebenszhorizont ist ausgeschritten.“ Er war ja ein gescheiter Mensch, stellt sie fest. Und offenbar auch ein hoffnungsloser, der sich sein Ende selbst erwählt und in der Schweiz vollzogen hat. 

Dieses Andere, das mitschwingist die Begeisterung für das, was hinter ihr liegt, die tollen Reisen, das volle Leben.  Was man erreichte, was man hatte. Jetzt krümmt sich der Rand der Einsamkeit als Horizont vor ihr. Die gräulichen Abhängigkeiten, weil man den Koffer nicht mehr alleine die Treppe runterbringt und man die Nichte fragen muss. Ich nehme  – vielleicht liege ich nicht richtig (wie weit können die kurzen Worte in einem Zeitungsartikel schon reichen?) – ich nehme eine Empörung wahr, nicht mehr zu haben, nicht mehr tun zu können, was man einst vermochte. Sagt das nicht auch das Zitat? Wer nicht mehr ausschreiten kann, hat sich leer gelebt.

In einem Gespräch mit Elisabeth Kübler-Ross bedauerte eine Sterbenskranke keinen Zweck mehr erfüllen zu können. Elisabeth Kübler-Ross fragte, ob sich in ihrem Fall der Zweck nicht verändert hätte? Mit Kochlöffel und Besenstiel durchs Haus zu wirbeln, sei tatsächlich vorbei. Die letzten Schritte, die, wenn nicht mehr ausgeschritten werden kann, anzunehmen, habe auch seinen Sinn. Nicht mehr tun, nicht mehr haben, am Ende sein.

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