Kämpfende Greise

Alte Kämpen

Wladimir Wladimirowitsch Putin ist im 72. Lebensjahr. Sechs Jahre älter ist USA- Präsidentschaftskandidat Donald Trump. Dessen politischer Gegner Joe Biden ist 82. Dagegen nimmt sich Türkeis moderner Sultan Recep Tayyip Erdogan mit seinen  frischen 70 als Jungspund unter den alten Kämpen aus, immerhin ein Jahr jünger als  Xi Jinping, den Führer Chinas im Kampf der streitenden Weltreiche. Sie alle kämpfen um Macht und Machtanspruch.  Grausam daran gescheitert ist kürzlich Joe Biden. Tattrig, brabbelnd, weggetreten präsentierte er sich im TV-Duell gegen Selbstbräuner-Fan Donald Trump.

Macht sticht Zeit

Auffällig derzeit, wie viele 70/80plus-Männer sich so unbedingt an der Macht halten wollen –  geradezu schamlos schrill beim israelischen Premier Benjamin Netanyahu (74). Die Diskussion um Washingtons Politikgreise fand bereits vor dem tragischen TV-Duell am 27. Juni statt – aber immerhin, sie wird geführt. Niemand verliert ein Wort darüber, dass Putins Regime immer arthritischer wird. Und das Oberhaupt des Reiches der Mitte ist ohnehin konkurrenz- und zeitlos gedacht wie dazumal  Chinas erster Kaiser. Macht sticht Zeit. Die Entdeckung der vierten Dimension geht an den alten Männern vorbei wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt.

Macht sticht Alter

Macht sticht Alter. Das steckt hinter dem Gehabe der Gerontokraten, die sich nicht einmal mehr den äußeren Anschein des Elder Statesman geben. Warum? 

Das Leben verlangt, je älter der Mensch wird, nach Einverständnis in dessen bisherigen Verlauf und in die kommenden Veränderung – die sind in keiner anderen Lebensphase gravierender als in der letzten. Integrität nannten Joan und Erik Erikson diese große Aufgabe des Alters. An der man freilich auch scheitern kann, grausam, wie man an Biden, Putin und Co. erkennen kann. Sie wollen in ihrem Machtanspruch diese letzte große Herausforderung umgehen.  Ein Ringen um Integrität, ein Ringen mit der  Veränderung findet nicht statt, weil Veränderung insgesamt nicht stattfinden darf und wenn, nie hätte stattfinden dürfen. Nicht von ungefähr bezeichnet ausgerechnet Putin den Untergang der Sowjetunion, jener Sowjetunion, die ihn hervorgebracht hat, als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts„.  Oder Trump, der in sloganhafter Kürze verkündet: Make America great again. Das neoreaktionäre Gebaren, die Dinge zurück auf einen imaginären alten Stand zu bringen, nämlich den bekannten, den ersehnten, als man selbst noch jung war und sich kraftvoll wähnte, wird immer tollkühner. Die Realitätsfremde wird immer offensichtlicher, weil sich, mag die äußere Welt auch biegen und brechen, die Dinge nach Bild des Grauwolfs fügen müssen. Er stemmt sich mit aller Macht gegen die Zeit. Darum geht es.

Macht sticht Leben

Die Zeit auf sich einzwingen. „Hitler“, so fasst Thomas Fuchs ein von Sebastian Haffner erkanntes Persönlichkeitsmerkmal zusammen, „verfolgte tatsächlich das aberwitzige Ziel, eine weltgeschichtliche Vision innerhalb seines eigenen Lebens zu realisieren, also gewissermaßen die Konvergenz von Leben und Welt zu erzwingen … Noch in den letzten Monaten klagte er die Zeit als Betrügerin seines großen Willens an.“ (Th. Fuchs, Zeitdiagnosen, Zug 2002, 103f) Wille sticht Lebenszeit. Was ist die Ursache für solche Hybris der Greise? Thomas Fuchs zitiert in diesem Zusammenhang das prägnante, in seiner Knappheit umso präzisere Resumee des österreichischen Psychoanalytikers Otto Rank,  der Neurotiker „verschmähe … die Leihgabe des Lebens, um damit der Begleichung der Schuld zu entgehen“, jener Schuldbegleichung, die Fuchs mit dem Tod identifiziert.  (Ebd., 106) Macht sticht Leben, darauf läuft es am Ende hinaus. Der Andere ist der Unwesentliche. Er wird verraten, geopfert,  muss sterben. In Putins Krieg, Trumps Lügen, Erdogans Ehrgeiz, Netanyahus Verzweiflung, Xis Unanfechtbarkeit und Bidens Verbohrtheit. 

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Bild: Josh Kirby

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