Einsamkeitslebensgeschichte

Trauriges Land

Frau B. wird selten besucht. Eine Kargheit ist um sie. Sie lebt in einem traurigen Land. Regungslos, schweigsam im Rollstuhl verharrend, sitzt sie ihre Tage ab. Immer mehr verliert sie die Verbindung zu dem, was um sie ist. Selbst zum Naheliegendsten: Dem Teller Suppe und dem Löffel auf dem Tisch vor ihr. Sie ergreift ihn nicht. 

„Frau B., da ist Ihre Suppe. Und hier der Löffel“, assistiert ihr meine Kollegin. Sie zeigt ihr, wie man Suppe löffelt, führt ihre Hand. Frau B. beobachtet das Ganze ohne rechte Anteilnahme. Dann schließlich ergreift sie das Besteck und isst.

„Sie wird aber auch selten besucht“, insistiert die Kollegin . Und fügt hinzu, dass Frau B. eine Tochter hat und zwar ganz in der Nähe. Das Unverständnis ist unmissverständlich. Frau B. wäre bestimmt besser beieinander, wenn die Familie Verbindung zu ihr hielte. Aber da herrscht offensichtlich Gleichgültigkeit. 

Die Einsamkeit des Suppenlöffels

Ein paar Tage später kommt Frau B.s Tochter mit dem Enkelkind vorbei. Der Junge schaut seine Oma groß an wie einen rätselhaften Gegenstand, an dem er irgendwie Interesse bekunden soll, aber nicht weiß welches. Frau B. betrachtet ihn wie den Suppenlöffel. Dann nach einer Weile erkennt sie etwas. Vielleicht dass da ein Kind vor ihr steht. Sie lächelt, weil man Kinder eben anlächelt. Frau B.s Tochter steht daneben, traurig, gefasst, wie jemand, die die Enttäuschung kennt, der sie sich bei jedem Besuch aussetzt, und sie gewohnt ist. 

Etwas später spreche ich sie an. Ich äußere meine Vermutung, dass die Mutter wegen der fortschreitenden Demenz ihren Enkel nicht erkannt habe. Aber es nicht die Demenz, die die Tochter traurig macht. Frau B. habe nie eine tiefe Beziehung zu ihren Enkeln gesucht, sagt sie. An ihrem Gesichtsausdruck erkenne ich, dass das auch auf sie selbst zutrifft.

Einsamkeitslebengeschichte

Als Mitarbeiter in einem Seniorenheim sehen wir einen Ausschnitt im Leben der Bewohner, den letzten. Natürlich geht es einem nahe, wenn alte Menschen in ihrem von Demenz, Herzinsufizienz, Diabetes, Athritis oder chronischer Atemnot  eingeschränkten Leben auch noch Einsamkeit ausgesetzt sind. Gegen Demenz kann man nichts ausrichten, gegen Einsamkeit schon. Aber die ganze Beziehungslebensgeschichte kennen wir nicht. Nur selten wie im Fall von Frau B.s Tochter sticht  andeutungsweise durch, welchen Grund die seltenen Besuche haben. Gründe für Beziehungslosigkeit gibt es viele. Aber wer gibt schon vor den Leuten im Heim zu, dass die Mutter eine verbitterte Trinkerin war oder der Vater niemanden mochte, am wenigsten sich selbst. Doch mit jedem Besuch bei Mutter oder Vater wird einem, gerade weil sie hilflos sind, deutlich, durch welchen Schmerz diese Beziehung  geprägt ist. Die Einsicht in die greisenhafte Hilflosigkeit mildert weder das Verhältnis zu den Eltern, noch ist es Anstoß, jetzt plötzlich – misericordia ex nihilo – Mitleid zu empfinden. Sie ist nur ein schmerzvoller Beweis dafür, wie wenig sich ein Leben lohnt, das auf Liebe verzichtet hat.  

Tatsächlich ist es für Außenstehend, also für die Mitarbeiter im Seniorenheim einfacher, sorgend (palliativ um den Fachbegriff zu verwenden) zu handeln, weil man diese Beziehungslebensgeschichten nicht teilt. Weil einem die verbitterte Mutter und der hartherzige Vater fremd bleiben können. Die Töchter und Söhne haben diese Möglichkeit nicht.‘

Bild: GrumpyBeere

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