Ein Kampf ohne Aussicht auf Sieg

Wohl mag es Phasen geben, die uns besonders gefallen. Gerade bei den Lebensaltern liegt dies sehr nahe. … Auf der anderen Seite steht dann das Alter, wenn die bösen Tage kommen und die Jahre nahen, da du wirst sagen: Sie gefallen mir nicht‘ … Wie schwer ist es, mit dem Alter versöhnt zu sein! … Und doch ist das eine nicht ohne das andere. Wer einen Teil des Lebens bejaht, um den Rest zu verwerfen, hat im Grunde genommen das Ganze verworfen.“ (R. Deichgräber, Von der Zeit, die mir gehört, Freiburg 1985, S. 40).

Neben uns auf dem IKEA-Parkplatz öffnet eine Frau ihren Kofferraum und bugsiert den Rollator für ihre Mutter heraus. Die Mutter, ans Auto gelehnt, nimmt ihn. Man sieht, dass die beiden das häufig machen, sie sind routiniert: Kofferraum auf, Rollator raus, Sich-Aufrichten, Übergabe, Halt-finden. Ob sie an das Getränk gedacht hat, fragt die Mutter die Tochter. Es wird bejaht. Und wie es mit dem Mittagessen zugehe? Erst einmal die Besorgungen erledigen, sagt die  Tochter, dann ins Restaurant. Kofferraum zu. Dann zuckeln sie ab in Richtung Aufzug.  Mit kleinen Kindern spielte sich die Szene ähnlich ab, nur die Requisiten wären andere: Buggy, Getränkefläschchen und das Tupperdöschen für die Zwischenversorgung – los geht’s. 

In dieser Parallelität zeichnet sich ein Phänomen ab, das Birgit Lambers als „Dilemma der Sandwich-Generation“ bezeichnet: „Die Betroffenen sind meist weiblich … Erst reiben sie sich auf, um Kind, Mann, Haushalt und Beruf unter einen Hut zu bringen. Dann werden – kaum sind Kinder aus dem Gröbsten raus – die Eltern und/oder Schwiegereltern pflegebedürftig. Die Chancen für die Frauen stehen gut, dass sie zeitgleich ins Klimakterium strudeln.“ (B. LambersWenn die Eltern plötzlich alt sind, München 2016, 35). 

Dilemma – so fühlt es sich an. Weil es zunächst tatsächlich auch ein Dilemma ist. Meine Frau und ich haben es erlebt. Aber für was steht dieses Dilemma? Auf was verweist es? Oder ist es einfach nur jene reguläre Lebenskatastrophe, die eintritt, wenn für die Eltern die Tage kommen, die böse sind (Pred. 12,1)? Ich bin nicht auf Antworten aus. Ich werde gewiss das Rätsel nicht knacken, das schon Kohelet nicht lösen können. Aber das im ersten und im letzten der Begriff „Dilemma“ derjenige sein soll, der für dieses Rätsel steht, kann ich auch nicht glauben. Weil ein Dilemma jedes Gespräch ausschließt.

Dann aber auch jedes Gespräch über das Wachsen, Reifen, die Grenzen, Möglichkeiten, Mangel und Vollendung. Es geht um ein Gespräch mit dem Altern: Wie das Altern der Generation vor mir mit mir spricht und mich dann selbst Worte finden lässt, vielleicht am Ende sogar so etwas wie eine Annäherung an des Rätsels Lösung. Ich versuche es. Meine Suche beginnt am 25. März.2024:

Die Sonne scheint an diesem frühen Märzmorgen. Der Tag unserer Abreise gibt sich harmlos. Als ob er sagen wollte, ich solle mich  nicht so anstellen, jeder hat mal eine miese Zeit, auch der Frühling in Deutschland. Das Wetter in den letzten Tage war kalt, dunkel und schlecht gelaunt. Wir sind auf den Weg in den Süden, in verlässliches warmes und sonniges Wetter. Meine Frau und ich sind seelisch durchgefroren, aber das hat nicht nur mit dem deutschen Frühling zu tun. 

Das letzte Jahr war hart. Vor zehn Monaten brach das Leben meiner Schwiegermutter endgültig zusammen. Demenz, Pflegeheim, freier Fall. Wir haben ihren Verfall gesehen. Und das Ignorieren ihres Verfalls. Wir erlebten, wie ihre Orientierungslosigkeit zunahm, immer groteskere und traurigere Züge annahm. Sie kämpfte, leistete Widerstand, indem sie uns beschuldigte, sie ihrer Einsamkeit zu überlassen. Einer mysteriösen Einsamkeit, die sie sich selbst erwählt hatte und unter der sie gleichzeitig litt. Meine Schwiegermutter war ein solitärer Mensch. Sie zelebrierte ihre Einsamkeit, eine  Einsamkeit, die ihren Ursprung irgendwo in den tragischen Ereignissen ihres Kindseins hatte, jenen Tragödien, an denen die  Generation der im Krieg geborenen so reich ist. Diese Einsamkeit hat sie nie überwunden und, als wäre sie eine Chiffre für irgendetwas, das sie nicht vergessen, aber auch nicht aussprechen wollte.

Im Lauf der Jahre entwickelte sich das Ignorieren, Klagen, Beschuldigen zu einem eigenen, in sich geschlossenen Kreislauf, in Gang gehalten durch die Kraft der Einsamkeit. Ich erinnere mich, wie meine Frau und ich beieinander saßen, irgendeine verstörende Begebenheit hatte sich ereignet und wir erkannten, dass wir gegen diese Kraft rein gar nichts ausrichten konnten. Dass es für uns das Beste war, das einfach zu akzeptieren. Meine Schwiegermutter kämpfte ohne Aussicht auf Sieg. 

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