Das Konzept Warten-Warten

„Sie sind heute in einer schlechteren Verfassung als noch vor zehn Jahren“, meint meine Kollegin, als wir uns über die Bewohnern im Heim unterhalten. „Heute sind sie wirklich deutlich pflegebedürftiger. Vor zehn Jahren waren sie noch etwas selbstständiger.“

Ich habe  nicht diesen Vergleich, da ich noch nicht so lange mit alten Menschen arbeite. Doch was die Pflegebedürftigkeit betrifft, kann auch ich sehen, dass sie sehr hoch ist. Ich merke etwa bei den Aktivierungen und Mobilisierungen, die wir  anbieten, wie unterschiedlich die Möglichkeiten der Bewohnerinnen und Bewohner sind mit der Tendenz, dass nicht mehr viel möglich ist. 

Ressourcen

Was nicht bedeutet, dass man mit dieser Arbeit auf verlorenem Posten stünde – ganz im Gegenteil! Selbst die zum Teil nur noch wenigen mentalen und körperlichen Resourcen zu erhalten, bedeutet ein echtes Mehr an Lebensqualität. Das merke ich allein schon daran, wie groß der Wunsch nach – im Pflegejargon – psychosozialer Begleitung  ist. Dazu zähle ich auch Gottesdienste und Andachten, denn dort wird gesungen und gemeinsam gebetet; abgesehen von Gemeinschaft und spirituellen Begleitung entfaltet die Reaktivierung einmal auswendig gelernter Lieder, Liturgieelemente, Glaubensbekenntnis und Vater Unser eine positive Wirkung. 

„Heute bleiben die Senioren bis es nicht mehr anders geht in ihren eigenen vier Wänden“, fährt die Kollegin fort. „Erst wenn es zum Alleräußersten kommt, wird an einen Umzug ins Pflegeheim gedacht.“ Und dann muss es ganz schnell gehen.

Es spricht vieles für den Erhalt der vertrauten Umgebung und sehr vieles wird auch getan, damit alte Menschen so lange bleiben können, wie es geht. Doch das Konzept Warten-Warten hat auch deutliche Nachteile: 

Apokalypse Pflegeheim

Haus und Wohnung werden zum Symbol, die Apokalypse Pflegeheim so lange wie möglich fern zu halten. Das läuft allen Anstrengungen zuwider, Seniorenheime als guten Ort des Alters zu gestalten. Gegen solch ein – ich möchte sagen – Schreckensbild, lässt sich selbst mit hohem Engagement und Qualität nichts ausrichten. Denn selbst die trostloseste Lage daheim ist immer noch besser als das beste Seniorenheim.

Nach Hause

Der zweite Nachteil ist der Zustand des alten Menschen, wenn er hochgradig versehrt, dement und pflegebedürftig einzieht. Das verstärkt die desparate psychische Verfassung, wenn er  seinem gewohnten Umfeld genommen, geradezu entrissen wird. Wie soll jemand in solch einem Zustand auch nur annähernd Fuß fassen können? Zumal Demente als Reaktion auf dies Herausgerissenwerden eine Hinlaufgefährdung entwickeln. Sie verlassen das Heim und können in gefährliche Situationen geraten. Je unvertrauter eine Umgebung, desto größer  das Bedürfnis, wieder nach Hause, ins Vertraute zurückzukehren. 

Abgesehen davon, dass der Aufwand, einen alten, orientierungslosen Menschen wieder zu finden, groß ist, bedeutet die Sorge um diesen Menschen eine hohe Belastung für die Mitarbeiter.

In den Grenzen meines Lebens

Und schließlich hat das Konzept Warten-Warten noch den Haken, dass die Frage, worauf man eigentlich warten soll, gar nicht beantwortet wird.

Die richtige Frage, die sich in erster Linie der alter Mensch selbst, in zweiter die Angehörigen stellen sollten, lautet: Wie kann ich in den Grenzen meines Lebens gut leben? In den Grenzen heißt miteinzubeziehen, dass sich die Lebensgrenzen im Alter am stärksten und am unvorhergesehendsten ändern. 

Metanoia zur Lebensmitte

Mir scheint letzteres der eigentliche Grund zu sein, warum am Konzept Warten-Warten so unbedingt festgehalten wird: Es ist schwer, sich die zunehmende Instabilität der eigenen Lebensgrenzen einzugestehen. Das ist es natürlich auch. Und doch gehört es zur Aufgabe des Lebens. Diese Aufgabe stellt sich jederzeit, doch  spätestens und am unaufschiebarsten im Alter. Wenn die Möglichkeiten ausgeschöpft sind und die Lebensgrenzen ausgereizt, dann verändert sich automatisch die Perspektive. Es findet ein Umdenken, eine metanoia statt: Man wendet den Blick von den Lebensgrenzen, die einem immer weniger Halt gewähren, hin zur Lebensmitte. Die Antwort wie ich in den Grenzen meines Lebens gut leben kann, ist nämlich dort und ich meine nur dort zu finden. 

Menschliches Leben lebt davon, dass es bejaht wird, denn es kann ja auch verneint werden. 
Jürgen Moltman

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