Zen-Meister
Das erste Mal seit Tagen, dass man sich im Freien aufhalten kann, ohne im nächsten Moment durchnässt zu werden. Ein bisschen schade, dass der Sommer so spätoktoberlich verläuft. „Ich hab den lieben Gott gebeten, dass er es regnen lässt“, sagt Frau G. betrübt. „Und er hat meine Bitte erfüllt.“
Wir sind alle etwas müde. Im Focus stellen sie fest, dass das am Wetter liegt. Da könnte diesmal sogar was dran sein. Herr F. achtet ebenfalls aufs Wetter. Er ist sogar ein ziemlich genauer Beobachter. Täglich vermerkt er die Bewegung der Blätter in den Bäumen auf der Wiese. Nicht als meteorologische Feststellung, sondern als bedeutsame Erfahrung. Die Veränderung des Windes beim Anblick der Blätter ist seine höchstpersönliche Zen-Meditation.
Am Anfang seines Aufenthaltes bei uns im Seniorenheim hat er sich noch aufgemacht, um nach Hause zurückzukehren. Er war sehr damit beschäftigt, seine Jacke zu suchen, das Portemonnaie, die Mütze oder die Schuhe. Irgendwann, wenn er alles beisammen hatte, ist er losgezuckelt mit seinem Rollator. Ich habe ihm die Jacke geholt und die Mütze gebracht. Meistens musste er auf dem Weg nach Eisenach ein Päuschen auf dem Sofa im Foyer einlegen. Danach hatte er vergessen, wohin er unterwegs war.
In der Demenz nimmt die intellektuelle Leistung ab. Wir denken, wenn die Gedächtnis- und Verstandesleistung verschwindet, verschwindet auch die Persönlichkeit. Wir sollten, was diese Einschätzung betrifft, auf unsere Wortwahl achten, die Kohärenz von Persönlichkeit und Leistung. Denn natürlich verschwindet die Persönlichkeit nicht, wenn die mentalen Kräfte versiegen. Im Gegenteil. Gewisse Merkmale treten stärker hervor.
Herr F. trägt in der Weise, in der er Wind und Laub Aufmerksamkeit schenkt, das Potential eines Basho in sich. „Alles windstill“, sagt er versunken. „Nicht das kleinste Lüftchen.“ Und für einen Moment folge ich seinem Blick aus der Pflegenotstandshektik hinaus in die Bewegungslosigkeit.
Bild: pixabay harmony412
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