Wo der Geist weht

 

Steiniger Boden

Für enthusiastische-pfingstliche und charismatische Glaubensformen ist der Boden steinig in Deutschland. Warum eigentlich? Tun wir uns mental einfach schwerer mit Gefühlsbetontem? Die WM 2006, als das Land in freudetrunkenen Fußballjubel versetzt wurde, bestätigt das nicht. Der Grund, warum man in Deutschland reserviert auf religiösen Begeisterung reagiert, hat tatsächlich mit unserer historischen Prägung zu tun, die ganz anders verlief als etwa in den Vereinigten Staaten.

Schwarmgeist

Luther höchstselbst verabscheute überbordendes religiöses Sendungsbewusstsein. Als „Schwärmer“ ächtete er sie, als irrlehrende Unruhestifter. Am Beispiel seines früheren Weggefährten Thomas Müntzer lässt sich nachvollziehen, warum Luther sich so sehr dem Schwarmgeist entgegen warf.

Feinde im (Heiligen) Geist

Die Reformation war Teil einer allgemeinen Umbruchszeit, die neben der Religion, ebenso Politik und Gesellschaft betraf. Zwar gab es schon davor reformatorische Ideen oder Bibelübersetzungen in die Volkssprache. Doch die atemberaubende Dynamik Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts änderte den Lauf der Geschichte. Luther und Müntzer waren Menschen dieses Umbruchs. Sie besaßen viele Gemeinsamkeiten: Müntzer, ein wenig jünger als Luther stammte aus einer wohlhabenden, bürgerlichen Familie aus Mitteldeutschland. Beide waren Theologen. Während Müntzers Studienzeit wurde er von Luthers Lehre angesprochen und schloss sich bald der Reformation an. Allerdings in einer sehr eigenen Weise. Müntzer betonte das „innere Wort“, das unmittelbare Wirken des Geistes in Visionen, Träume und Offenbarungen. Außerdem war er ein rigoroser und kompromissloser Kritiker gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese Radikalität einerseits und seine visionäre Theologie andererseits lehnte Luther ab. Als sich Müntzer zum Führer des Bauernaufstandes in Thüringen machte, um seine religiösen und gesellschaftlichen Ideen durchzusetzen, wurde ihm Luther endgültig zum Feind. Die Schwärmer, so der Reformator stellten die evangelischen Freiheiten auf den Kopf. Als der Bauernaufstand niedergeschlagen wurde und Müntzer den Tod fand, war dies ganz in Luthers Sinne.

Nur keine Extreme

Seit dieser Zeit wurde gegen den „Schwarmgeist“ polemisiert. Enthusiasmus, Umsturz, Revolution sind der Protestanten Sache nicht. Wer in Verdacht geriet, dass ihm der Ruch des religiös Extremen anhaftete, wurde flugs in die Schwärmerecke gestellt. Der Schwärmerverdacht wurde z.B. über diejenigen ausgesprochen, die einem radikalen Pietismus anhingen. Für charismatische und pfingstliche Spiritualität hatte man schon gar nichts übrig. „Schwärmerisch“ war das gebräuchliche Synonym für diese Glaubensweise.

God’s own country

Ganz anders waren die Voraussetzungen in den Vereinigten Staaten. Während enthusiastische Religiosität in Deutschland abgelehnt wurde, gehört sie in den USA zum Gründungsmythos. Im Jahr 1681 gründete der Engländer William Penn an der Ostküste Nordamerikas eine Kolonie, die er nach den Grundsätzen seines enthusiastischen Glaubens führte. Penn und seine Mitstreiter von der „Gesellschaft der Freunde“, wie sie sich selbst nannten, betrachteten diese Kolonie als ein heiliges Experiment, ganz nach dem Willen Gottes zu leben. Im britischen Mutterland, wo man sie spöttisch als „Zitterer“, englisch „Quaker“ bezeichnete, konnten sie es nicht verwirklichen. Die Quäkerkolonie Pennsylvania ging als Gründungskolonie der USA in die Geschichte ein.

Glaubensflucht

Sie wurde auch deutschen Glaubensflüchtlingen zur Heimat, die aufgrund ihrer schwärmerischen Überzeugung das Land verlassen mussten. Noch heute spricht man in Pennsylvania eine deutsche Sprachvarietät. Ebenfalls eine andere, ebenfalls enthusiastische Gemeinschaft von Glaubensflüchtlingen hatte Einfluss auf die Geschichte, genauer die Kulturgeschichte. Die Shaker (engl. to shake = schütteln) waren berühmt für ihre einzigartigen Bauwerke und Möbel. Deren schlichte Schönheit inspirierte Architektur und Design zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Fazit

Geschichte prägt. Gerade die Glaubensgeschichte. Derselbe „Schwarmgeist“, der hierzulande auf Ablehnung, ja Anfeindung stieß, wurde in den USA zu einer Kraft, die das Land bis heute gestaltet.

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veröffentlicht im ev. Gemeindeblatt für Württemberg 10/22

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