Geschichten geben die Möglichkeit, die diffuse und unüberblickbare Welt abzubilden. Mit den Mitteln von Erzählung, Fiktion und Fantasie werden Zusammenhänge sichtbar. Das gelingt Rebecca F. Kuang mit Babel einzigartig meisterlich und deshalb ist es wert, dieses wichtige, wunderbare Buch ein zweites Mal zu besprechen.
Vergleicht man die Erzählung des Buchs und die Auseinandersetzungen der Gegenwart, wird man, je näher man dem furiosen Finale des Buches kommt, feststellen, dass Babel wie ein Vaticinium ex eventu wirkt;
Auf der einen Seite steht die Perfidie des britischen Empires, seine Stellung vor den Europäern und in der Welt zu sichern – etwas, das in der Gegenwart der Brexit leisten sollte, aber das Gegenteil erreichte. Kuangs Empire ist gekennzeichnet durch eine Mischung aus rücksichtslosem Pragmatismus, Rassismus und brutaler Ignoranz. Auf der anderen Seite stehen die ausgebeuteten Nationen, allen voran China und Indien, deren Kulturen ausgenutzt verunglimpft und beschimpft werden müssen, um die weiße, britische Überlegenheit zu rechtfertigen. Die Chinesen sind labil und rassisch zweitklassig, die Inder ohnehin schlicht und einfach „zu dunkel“. Am Ende stürzt der Ort des Geschehens, das Institut von Babel ein und mit ihm das zentrale Instrument britischer Macht. Zu Fall gebracht wurde dieser (im Buch auch ein) Turm nicht durch göttliche Hand, sondern durch Vertreter der von den Europäern unterdrückten Völker und Kulturen.
Aber ist dieser Fall ein Sieg? Führt die Notwendigkeit der Gewalt wirklich zum Triumph? Rebecca Kuang legt sich nicht fest und das ist das Faszinierende an Babel. Die offenen Enden der Geschichte verbinden sich mit den Ereignissen der Gegenwart. Die ehemals Niedergehaltenen übernehmen die Haltung ihrer Demütiger: Ein China, das nunmehr nach unbedingter Vormacht strebt. Ein fundamentalistisches Indien, das im Glauben an seine zunehmenden Bedeutung Huldigung erwartet. Ein Russland, das seine Kränkungen und Herabwürdigung durch den „Westen“ in Kriegen, Despotismus und übersteigertem Nationalismus kompensiert. Fast möchte man sagen, dass mit dem Fall des Oxforder Turms zu Babel die imperialistische Krankheit zur Seuche wird, ausgestreut ‚über die ganze Erde‘ (1.Mo. 11, 8),
Rebecca F. Kuangs Babel ist zu Recht ein Weltbestseller (D. Scheck).