Aufbruch

Ein alter Lehrer von mir, ich erinnere mich, dass ich 16 Jahre alt war, sagte zu mir: ‚Simon, wirst du mir versprechen, bei allem was du tust, ein Reisender zu bleiben und nicht zu beschließen, irgendwann irgendwo anzukommen? Wenn du  glaubst, du bist am Ziel, geht es verloren. Denn es ist immer größer, als das, was du in Händen hältst.‘

Simon Rattle, Rhythm is it

Am Anfang

Es gibt zwei Arten, eine Reise zu beginnen. Einmal indem man sich, den Horizont ins Auge fassend, auf die Reise zu neuen Orten begibt. Und zum anderen indem man, das wüste Land vor Augen habend, jenen Ort verlässt, an dem man nicht mehr sein kann. Die erste Art, sich auf eine Reise zu begeben, ist die bessere. Denn die zweite ist eigentliche keine Reise. Es ist eine Flucht und das ist kein guter Ausgangspunkt.

Rückblick

Ich befand mich im Zwiespalt als ich mich auf den Weg einer neuen beruflichen Aufgabe begab. Denn tatsächlich begann dieser Weg mit einem Fluchtgedanken, mit der Einsicht, dass ich dort, wo ich war, nicht mehr bleiben konnte. Das tägliche Maß an Frustration hatte so sehr zugenommen, dass das Frustriert-Sein meinen Alltag bestimmte. Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich mir innere Freiheit bewahren musste, um eine Entscheidung zu treffen, die nicht nur der Fluchtbewegung geschuldet war.

Letztlich konnte ich mir diese Freiheit zumindest eingeschränkt erhalten, indem ich mir eingestand, sie zu spät ergriffen zu haben. Die Tatsache, nicht mehr am richtigen Ort zu sein, hatte ich zu lange ignoriert. Was den Aufbruch zu einer Reise betrifft, würde ich sagen, dass er wesentlich mit dem Gespür für Rechtzeitigkeit zu tun hat. Aus Furcht vor allem Unwägbaren zu beschließen, bei dem zu bleiben, wo man ist und was man hat, führt in größere Verzweiflung, als die Angst vor den Reiserisiken. Tatsächlich erinnere ich mich, dass ich, nachdem ich mich schließlich zum Aufbruch entschieden hatte, die erstaunliche Erfahrung machte, ein unerwartetes Gefühl von Freiheit zu erleben. Es wird etwas geschehen und darauf war ich gespannt. Überhaupt, ich konnte wieder auf etwas gespannt sein.  Wohin also sollte es gehen? Nachdem ich mich so lange am falschen Ort aufgehalten hatte, lautete die Antwort: Zu mir selbst.

Begegnung

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich mich unterhalten habe und die wie ich als Quereinsteiger zur Arbeit mit Senioren gekommen sind, befinden sich – ebenfalls wie ich –  im mittleren Lebensalter. Das ist eine besondere Situation: Wir blicken auf einen Teil unseres Lebens zurück mit allen Erfahrungen, erreichten und missglückten Zielen, die uns geformt haben. In dieser Lebensphase stehen wir nicht mehr unter dem Zwang einer beruflichen Punktlandung. Man muss keinen Karriereplan erfüllen. Die Versorgung der Kinder hat nicht mehr erste Priorität. Das liegt hinter uns. Stattdessen können wir auf einen Fundus zurückgreifen, die Grenzen sind erfahren, die Talente erprobt, die Neigungen bekannt. Wir können nun sagen, was wir möchten und was wir nicht wollen. Etwas Sinnvolles tun, mit Menschen arbeiten, sie begleiten und unterstützen, einer Seite der Persönlichkeit, die bisher nicht ihren Ausdruck fand, Geltung  verschaffen – so oder ähnlich lauten die Motive für den Berufswechsel.
 

In diesem Wunsch, etwas Sinnhaftes für andere zu tun, spiegelt sich nach meinem Dafürhalten  die eigene, reifer gewordene Persönlichkeit, andererseits die Erkenntnis, die Sir Simons Lehrer seinem Schüler zu vermitteln versuchte: Das zentrale Merkmal der Reise zu sich selbst sind die offenen Hände, die Hände, die kein Ziel mehr umschließen müssen.

Ich möchte hinzufügen, dass die Reise mit offenen Händen immer notwendig  geprägt ist durch den Anderen. Wenn ich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern im Seniorenheim arbeite, arbeitet es immer auch an mir und das ist es ja jetzt, was ich möchte, zu mir kommen. „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Es ist diese menschliche Grundkonstante, die, so oft versucht, sich doch immer wieder aufs Neue als zutreffend erweist. Dieser Konstante folgend, kann die Weise, zu mir selbst zu kommen keine andere als die Begegnung sein. 

Auf der Reise

Die Reiserisiken, das Unwägbare bestehen auch nach Beginn der Reise. Aber die Befürchtungen sind vergangen. Sie sind recht schnell vergangen. Die Neugierde aber ist geblieben, hat sogar zugenommen. Ich bleibe gespannt. 

Und schenke mir den schönsten blauen Wind des Daseins

der den Kreis schließt

zwischen dir und mir

Sabine Hoffmann

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