Über die Notwendigkeit, sich zurückzuziehen
Das Zusammenspiel von Reife und Besinnung im Alter
Abwehr
Die kanadische Therapeutin Joan Erikson bedauerte, dass unsere westlichen Gesellschaften das Altwerden so heftig abweisen. Sie schreibt: „Alte werden nicht mehr als Träger der Weisheit, sondern als Verkörperungen dessen angesehen, wofür man sich schämen muss.“ (in: James S. Fleming, Erikson’s Psychosocial Development Stage, o.A.,2004, S.10)
Was könnten die Gründe sein für diese Abwehr?
Zunächst einmal zweifellos die Tatsache, dass die Alten das eigene Altern spiegeln und die Frage herausfordern, wie (und ob) man selbst alt werden möchte. Das ist nichts neues. Schon die antike griechische Komödie machte sich lustig über den alten Zausel, der krumm und kindisch auf der Bühne agiert. Man lachte aus, was das eigene Ideal von Stärke, Jugendlichkeit und Schönheit verspottete: Das Altern. Es wurde wie der nordische Strohtod (der natürliche Tod auf dem Sterbelager) als wenig erstrebenswert angesehen. Aus demselben Grund entscheidet sich Achill, dem prophezeit ist, entweder jung und ehrenvoll zu sterben oder gemessen alt, aber vergessen zu werden, für frühen Tod und unsterblichen Ruhm. Indes können die abendländischen Mythologien die gegenwärtige Abwehrhaltung gegen das Altern nicht umfassend erklären. Immerhin kennen wir auch die römische Traditon, den Alten (seniores) eine hervorragende politische Position als Senat zuzuweisen, weil man ihrem reifen Urteil vertraute.
Das Altern kennzeichnet einen weiteren Aspekt, der gerade heute als besonders schmerzlich empfunden wird. Das Leben liegt in der Fülle seiner Möglichkeiten hinter einem. Dass die Möglichkeiten ausgeschöpft sein können, dass die Dinge sind, wie sie sind, löst in den Bewohner einer Epoche, die prinzipiell mit Alternativen rechnet, Bestürzung und Widerstand aus. Paradoxerweise zeigt sich diese Haltung gerade im Gehabe jener mächtigen, alten Männer, die gegenwärtig für so viel Verdruss sorgen. Putin (71), Trump (77), Xi Jinpin (70) oder Erdogan (69) stehen für diesen Widerstand gegen das Altwerden, gegen das Ende der Möglichkeiten. So versprach der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nach gewonnener Wahl 2023 „bis zum Tod“ mit seinem Volk (oder wenigstens seinen Wählern) zusammenzubleiben. Gemessen am biblischem Verständnis, dass das Leben 70, wenn’s hoch kommt 80 Jahre bemisst (was ungefähr der gegenwärtigen Lebenserwartung in der Republik Türkei entspricht; vgl. Ps. 90,10), ist die Zeitspanne, die dieses Versprechen einnimmt, doch recht überschaubar. Machtfülle anzuhäufen nimmt sich wie eine Ersatzhandlung für die eigentliche Aufgabe des Alterns aus, nämlich das Leben anzunehmen, zusammenzufassen und loszulassen.
Auftrag
Prägnant formuliert das Jörg Zink: „Mein Auftrag ist, von mir Abschied zu nehmen, das heißt von der Idee, weiterleben zu müssen, weiter wirken zu müssen in dieser Welt.“ (J. Zink, die Stille der Zeit, Güterloh 4. Aufl., 2014, S. 116). Die Opposition gegen den Abschied ist, wie das o.g. Beispiel zeigt, übermächtig. Es mag viele Gründe für diese Haltung geben. Hervorgehoben sei der von der Ethikerin Lisa Häberlein genannte: „Werte wie Produktivität, Effektivität und Rationalismus sorgen dafür, das Rückzug – im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg – als negativ betrachtet wird“ (L. Häberlein, Gerotranszendenz – Erstrebenswerter Seinsmodus im hohen Alter?)
Rückzug
Doch wenn „Rückzug – im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg“ als „negativ betrachtet wird“, auf welche Lebensphase träfe diese Bewertung nicht zu? Nach dem Phasenmodell Joan und Erik Eriksons kennzeichnen sämtliche Stufen menschlicher Entwicklung verschiedene Weichenstellungen des Selbst geprägt. Diese Weichenstellungen sind notwendig in jeder Phase von Rückzug geprägt. Dieser Rückzug ist keine kontemplative Zeit, sondern eine Zeit der Herausforderung, der Verunsicherung, im wahrsten Sinn des Wortes der Ich-Auseinandersetzung. Eine Ich-Entfernung, um sich selbst neu in den Blick zu bekommen; besonders augenfällig wird die Krise der Ich-Auseinandersetzung in der Phase der Adoleszenz.
Alternde Menschen, vor allem hochaltrige Menschen erleben diese Ich-Auseinandersetzung besonders heftig. Die körperlichen Kräfte weichen, die mentalen, die Gesundheit. Freunde, Partner, Menschen, mit denen man das Leben teilte, gehen. Die Verluste werden größer, die Kreise äußerer und innerer Mobilität immer enger. Doch diese umfassende Verlusterfahrung löst den letzten, ich möchte sagen entscheidenden Reifeschub des Lebens aus. Erikson charakterisiert diesen Reifeprozess, das Einverständnis mit dem eigenen Leben – er nennt dieses Einverständnis Integrität – auf dreierlei Weise: „Er bedeutet die Annahme seines einen und einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in ihm notwendig da sein mußten und durch keine anderen ersetzt werden können. Er bedeutet, eine neue, andere Liebe zu den Eltern, frei von dem Wunsch, sie möchten anders gewesen sein als sie waren, und die Bejahung der Tatsache, dass man für das Leben allein verantwortlich ist. Er enthält ein Gefühl von Kameradschaft zu den Männern und Frauen ferner Zeiten und Lebensformen, die Ordnungen und Dinge vermehrt haben, welche die menschliche Würde und Liebe vermehrt haben.“ (E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/ M. 1966, S. 118f). Annahme – Verantwortung – Verbundenheit
In gewisser Weise kann man alle Stufen, die dieser vorausgehen, als ein Einüben in die Integrität verstehen. Wenn wir mit alten Menschen zusammen kommen, die gelassen sind, die eine innere Würde ausstrahlen, spüren wir diese Integrität. Wir erleben jemanden, der sich mit seinem Leben einverstanden erklärt, wie es ist und nicht wie es sein könnte. So jemand kann zum Vorbild werden.
Erikson spricht allerdings auch vom Misslingen der Integrität. „Sie äußert sich als Verzweiflung, eine Verzweiflung, in der sich das Gefühl ausdrückt, daß die Zeit kurz, zu kurz für den Versuch ist, ein neues Leben zu beginnen … Eine solche Verzweiflung versteckt sich oft hinter einer Kulisse von Ekel, Lebensüberdruß oder einer chronischen Verächtlichmachung bestimmter Institutionen oder bestimmter Leute – eine Kritik, die, wenn sie nicht mit konstruktiven Ideen und der Bereitschaft zur Mitwirkung verbunden ist, nur die Selbstverachtung des Individuums ausdrückt.“ (Erikson, a.a.O., S. 119).
Scheitern und Spiritualität
Das Scheitern der Integrität ist tragisch. Zu- und Angehörige, Pflegende, Begleitende, Therapeuten betreten in Begegnungen mit solchen Menschen einen Raum, der vom Scheitern geprägt ist. Das ist schwer auszuhalten. Ist jetzt überhaupt noch eine Veränderung möglich, wenn ein ganzes Leben hinter diesem Konflikt steht? Kann das überhaupt die Aufgabe anderer sein? Mir erscheinen die Möglichkeiten sehr beschränkt und wenn überhaupt nur auf der spirituellen Ebene denkbar. Aber auf dieser Ebene ist das Scheitern aussprechbar. Abermals Jörg Zink macht vor, wie das gehen kann. Er schrieb über das Altwerden:
Und die Angst? Habe ich Angst?
Ich bin kein ängstlicher Mensch.
Ängstige ich mich vor dem Tod? Nein. Das nicht.
Aber das Schmerzen mich eines Tages
um die Selbstbeherrschung bringen,
dass eine Krankheit mich nicht läutert,
wie manche es erhoffen oder zumindest behaupten,
sondern zermürbt und zerstört, davor habe ich Angst.
Dass eines Tages all das,
was in meinem Leben misslungen ist,
vor mir steht und nicht weggehen will.
(J. Zink, a.a.O., S. 16)
Bekennen
Das Ansprechen des Scheiterns (die Sprache des Glaubens verwendet hier den Begriff des Bekenntnis) hat zwar nicht die Kraft, all das, „was in meinem Leben vor mir steht“ verschwinden zu lassen. Darum geht es auch nicht beim Bekennen. Was sich dahinter verbirgt, kann hier nicht entfaltet werden, es ist ein anderes Thema. Der Vorgang aber, wie sich das Bekennen vollzieht, ist nichts anderes ist als jener „Rückzug – im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensweg“.
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Bild: Georgia O’Keefe: Wave, Night, 1921