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Ein Mann zerbricht sich den Kopf

Für den einen ist sie Ausdruck größter Gottesnähe, den anderen stürzt sie in Verwirrung. Dem einen gilt sie als wesentliches Heilsmerkmal, dem anderen als heftiges Ärgernis: Die Gabe der Zungenrede. Schon Paulus zerbrach sich den Kopf darüber. Weniger im Blick auf die Frage, wie dieses Charisma beschaffen ist – er und seine Zeitgenossen wussten, wovon die Rede war, wenn man in Zungen redete. Ihm ging es um die Frage, welchen Stellenwert es im Reigen der Charismen einnimmt. Uns heute freilich ist anders als ihm nicht mehr klar, was es mit dieser besonderen Geistesgabe auf sich hat. Auch das trägt zu ihrer Verwirrung bei.

Am Anfang ist der Unterschied

Zunächst muss man die Zungenrede von der Sprachenrede unterscheiden, mit der sie zusammengebracht wird. Sprachenrede bezeichnet jene Gabe, die es einem erlaubt, spontan in einer fremden Sprache zu sprechen. Apostelgeschichte 2 erzählt von der wunderbaren Sprachbegabung der Jünger durch den Heiligen Geist. Auch die Zungenrede ist eine Geistesgabe. Doch während die Sprachenrede dazu dient, das Evangelium unter die Leute zu bringen, ist die Zungenrede oder Glossolalie Ausdruck einer tiefen, persönlichen Nähe zu Gott. Ihr Ort ist der Gottesdienst und das Gebet. Sofern Zungenrede oder Zungengebet nicht übertragen wird, bleibt es unverständlich. Paulus neigte im Blick auf diese Gabe zu Zurückhaltung. 

Nicht, dass sie ihm missfiel – im Gegenteil, er übte Glossolalie selbst aus. Aber was nützte der Gemeinde die Tatsache, dass jemand in Zungen sprach, wenn keiner wusste, was er sagte? Die korinthischen Christen hingegen waren mächtig beeindruckt und hielten den- oder diejenige für eine Glaubensgröße, die sich der Sprache der Engel, wie man Glossolalie auch nannte, befleißigte. Paulus mahnte sie zur Demut: „Stellt euch vor, ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprache der Engel. Wenn ich aber keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken.“ (1. Korinther 13,1) Als Glaubensauszeichnung eignet sich die Zungenrede nicht. Doch was geht in einem Menschen vor, der sie ausübt?

Sprache der Seele

Glossolalie sei, so die Deutung der älteren Psychoanalyse, eine seelische Strategie, Wünsche, Ängste oder Schuldgefühle auszuagieren. Sie sei eine neurotische Reaktion oder schlicht die Inszenierung von Hysterikern. Der Religionspsychologe Bernhard Grom warnt vor solchen pathologischen Vereinfachungen. Bei Menschen, die in Zungen reden, gibt es keine generelle Verbindung zu bestimmten wie auch immer gearteten Persönlichkeitsmerkmalen. Der amerikanische Psychotherapeut und praktizierender Glossolale R.K. Rey beschreibt Zungenrede weitaus unspektakulärer: „Ich persönlich betrachte die Glossolalie .. als eine Art psychische Lockerung oder Entspannung. In diesem Sinne kann sie ein Charisma sein. Ich anerkenne sie als nonverbale Ausdrucksform unserer Gefühle gegenüber Gott. Als einen Akt der Demut, vor ihm wie ein Kind zu sein, den intellektuellen Stolz loszulassen und den Zwang, in geistlichem Imponiergebaren mit schönen Worten vor ihn zu treten.“

Die Kirche im Dorf lassen

Diese Definition trifft nicht alle Aspekte dessen, was Zungenrede ist, aber sie klärt die Frage, was sie ist und macht zugleich darauf aufmerksam, was sie nicht ist: Die Zungenrede ist intim, ein Ausdruck unmittelbarer Frömmigkeit. Man ist Gott zugewandt wie ein Kind, vertrauensvoll, entspannt und bei sich selbst. Produzieren kann man diesen Zustand nicht, er ist eine Gabe, eine im wahrsten Sinn des Wortes Gnadengabe. Deshalb ist Zungenrede ungeeignet, um sie intellektuell zu beurteilen; genau dies will sie ja gerade nicht, nämlich alles durch den Filter des Verstandes gehen zu lassen. Doch weil sie ganzheitlich und persönlich ist, kann Glossolalie eben auch nicht als objektives Kriterium herhalten, um den aktuellen Stand im Heiligungsranking zu bezeichnen. Man muss die Kirche im Dorf lassen! Zungenrede lässt sich weder intellektuell noch theologisch herauszufordern. Sie ist – und hier gilt ganz die Linie des Apostel Paulus – ein persönliches Geschehen zwischen Gott und einem selbst. Ein Geschenk.

Fortsetzung im Artikel: Wo der Geist weht – warum wir doch Visionen brauchen

veröffentlicht im ev. Gemeindeblatt für Württemberg 10/22

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