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„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein.“

Karl Rahner

Wie können wir Gott erfahren? Gemeinhin werden drei Antworten gegeben:

  1. Durch das Verstehen, die Theologie.
  2. Durch den Glauben an Jesus Christus, das Bekenntnis.
  3. Oder schlicht mit der Behauptung, dass man ihn überhaupt nicht erfahren kann, weil es Gott nicht gibt.

Jede dieser Antworten hat ihre Tücken.

  • Gott mit dem Verstand zu begreifen, ist ambitioniert, aber kaum möglich, weil Gott über das Verstehen hinausgeht.
  • Das reine Bekenntnis ohne echte Glaubenserfahrung ist inhaltslos.
  • Und die Aussage, dass es Gott nicht gibt, ist überhaupt keine Antwort, sondern eine persönliche Entscheidung.

Der große Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues hat eine vierte Antwort gegeben: „Der Mensch kann sich Gott nur in der Sehnsucht nähern.“  Menschen erfahren Gott in der Sehnsucht nach ihm. Die älteste, prägendste und bis heute lebendige Form dieser Sehnsucht ist die Mystik. Mystik ist das andere Verständnis von Gott.

Mystik ist keine speziell christliche Glaubensweise. Es gab sie bereits vor dem Christentum. Die Vorstellungen der griechischen Philosophen Plotin und Pythagoras sind von Mystik geprägt. Auch in anderen Religionen existiert Mystik, so im Hinduismus und im Buddhismus. Die Sehnsucht nach Gott unterliegt keiner religiösen, kulturellen oder zeitlichen Begrenzung. Sie ist in jeglicher Hinsicht umfassend. Sie ist menschlich.

Unser Wort „mystisch“ entstammt dem Griechischen und bedeutet „stille sein“ oder „geheimnisvoll“. Beides drückt das Wesen der Mystik treffend aus. Die Sehnsucht nach Gott offenbart sich im Schweigen und das, was er im Schweigen äußert, verschließt sich dem allgemeinen Verständnis. Der deutsche Mystiker Meister Eckhart verwendete spezielle Ausdrücke, um seine mystischen Erfahrungen wiederzugeben. Worte wie „Abgeschiedenheit“ und „Gelassenheit“ sind heute Bestandteil der Alltagssprache. Andere wie „Einung“ oder „Seelenfünklein“ bleiben geheimnisvoll. Mystik setzt eine innere Bereitschaft oder Einstellung voraus. Sie besteht darin, sich von den alltäglichen Denkgewohnheiten zu lösen; der Begriff „Gelassenheit“ ist durchaus wörtlich zu verstehen: Man muss los-lassen, man muss ge-lassen werden.

Wie kann ich loslassen? Wie kann ich den Raum mystischer Erfahrung betreten? Bemerkenswerterweise ist das gar nicht so geheimnisvoll. Das Gebet ist die Tür, sich Gott hinzugeben. Unter den vielen Gebets- und Meditationsformen ist eine besonders beachtenswert: Das Herzens- oder Jesusgebet. Es entstammt der urchristlichen Tradition, seine Wurzeln reichen also fast bis an Ursprung des Christentums. Es ist fester Bestandteil der ostkirchlichen Frömmigkeit, erlebt aber heute als christlicher Meditationsweg in Deutschland eine Renaissance. Und zwar sowohl in der katholischen wie in der evangelischen Kirche. So bietet das Gebetshaus Augsburg kontemplative Gebetskreise an, in denen das Herzensgebet miteinander geübt wird.

Beim Jesusgebet geht es darum, Gebetsworte im Rhythmus des eigenen Atmens zu wiederholen. Das Ziel ist, wie es Pater Walter Huber formuliert, „(N)icht an Bildern und Gedanken hängen zu bleiben, sondern bei Gott zu ruhen.“ Die Gebetsworte sind sehr einfach gehalten. Sie können sich auf den Namen Jesu Christi beschränken oder erweitert werden durch das christliche Urbekenntnis „Jesus Christus – König und Herr“. Die Wüstenväter beteten „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.“ Doch „(S)elbst diese Gebetsworte können sich auflösen,“ wie Walter Huber bemerkt, „indem man einfach in der Gegenwart Gottes ist.“

Im Zusammenhang mit der Mystik ist noch erwähnenswert, dass sie in der männerzentrierten christlichen Religion dezidiert auch Frauen Raum gegeben hat und gibt. Viele der berühmtesten Mystiker sind Mystikerinnen: Hildegard von Bingen, Teresa von Avila oder Edith Stein.

Fortsetzung Artikel: Wo der Geist weht – moderne Mystiker

veröffentlicht im ev. Gemeindeblatt für Württemberg 10/22

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