Bonhoeffers Dummheit

 

Dietrich Bonhoeffer ist gewiss einer der berühmtesten Theologen des 20. Jahrhunderts, was auch mit der Zeit zusammenhängt, in der er lebte und wirkte. Er arbeitete während des Dritten Reiches als Pfarrer und Dozent. Der Nazi-Diktatur und der Verfolgung jüdischer Deutscher widersprach er von ganzem Herzen, was ihn in tödlichen Konflikt mit dem Regime brachte. Des Hochverrats angeklagt und für schuldig befunden, wurde er auf ausdrückliches Betreiben Hitlers im April 1945 hingerichtet. Nur wenige Wochen später wurde das KZ Floßenbürg, in dem er ermordet wurde, von den Alliierten befreit.

Bonhoeffer hinterließ viele Schriften. Das bekannteste Werk ist „Widerstand und Ergebung“, eine Sammlung von Gedichten, Texten, Predigten und Briefen, die nach seinem Tod zusammengestellt wurden. Seine Überlegungen zum Wesen der Dummheit entstammen einem Text mit dem Titel „Nach 10 Jahren – Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“. Bonhoeffer blickt in diesem Text auf die Zeit der Naziherrschaft in Deutschland zurück und zieht ein Fazit. Er fragt sich, ob es jemals in der Menschheitsgeschichte eine Zeit gegeben habe, die in der Wirklichkeit so wenig verwurzelt gewesen ist wie in den Jahren 1933 bis 43. Wie kann es sein, dass die deutsche Kultur, die über eine so lange und reiche Geschichte verfügt, in eine solche bodenlose Situation geriet? Eine Antwort findet er in der Betrachtung über die Natur der Dummheit.

Für Bonhoeffer ist Dummheit weder ein Mangel an Wissen, noch ein Mangel an Verstand. Er erlebte Menschen, die über eine hohe Bildung verfügten und trotzdem „dumm“ handelten. „Dummheit“ muss also einen anderen, umfassenderen Rahmen haben als nur den des Intellekts. Bonhoeffer definiert Dummheit moralisch. Wenn aber Dummheit moralisch ist, dann steht sie dem Bösen, dem Amoralischen im Wesen nahe. Ja, er behauptet gleich zu Beginn seiner Darlegung, dass die Dummheit ein gefährlicherer Feind des Guten sei als die Bosheit.

Ein Rückblick auf Machiavellis Haltung zur Moral: Der ließ, wenn es um politisch sinnvolle Entscheidungen ging, die Moral weitestgehend außen vor. Sie eigne sich nicht als Bestandteil, um politischen Erfolg durchzusetzen. Bonhoeffer hingegen betrachtet Moral nicht als Faktor oder Bestandteil, den man einbeziehen oder – wie es Machiavelli tut – auslassen könnte. Sondern für ihn ist Moral wesenhaft mit dem Menschen verbunden. Das trifft ebenso auf den Einzelnen wie auf auf die Gesellschaft zu. Bonhoeffer schreibt, Dummheit sei kein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt.

Die Folgen dieses Defekts sind damals wie heute dieselben:

1. „Dumme“ Menschen fallen Parolen und Schlagworten anheim. Fakten widersprechen sie, weil sie sie entweder nicht glauben oder als nebensächlich abtun.

2. „Dumme“ Menschen sind selbstzufrieden, doch selbstsicher sind sie nicht. Widerspruch lässt sie wütend werden, sogar gefährlich, wenn sie zum Gegenschlag ausholen.

3. „Dummheit“ verbreitet sich vor allem in Gruppen. Für Bonhoeffer ist dies ein wesentlicher Hinweis, dass Dummheit nicht angeboren, sondern erworben sein muss.

4. Weil „Dummheit“ diese Eigenart hat, sich in Gruppen zu vervielfältigen, kann ein Einzelner sie sich zu nutze machen, um Einfluss zu gewinnen. Populismus ist das Wort, das wir heute dafür verwenden. Bonhoeffer behauptet, dass die Macht des einen, die Dummheit der Menge braucht. Mehr noch:

5. „Dummheit“ und Macht reproduzieren einander. Je größer und überwältigender die Macht wird, desto eher ist der „dumme“ Mensch bereit, seine innere Selbstständigkeit aufzugeben, um sich dieser Macht unterzuordnen.

Bonhoeffer ist hellsichtig genug, um zu erkennen, dass Belehrung bei „dummen“ Menschen nicht

 

verfängt. Sie sind verblendet und können in dieser Verblendung nicht erkennen, dass das, was sie tun, böse und gefährlich ist. Nicht, dass es unmöglich wäre, der Dummheit zu widerstehen. Aber das geschieht durch einen Akt der Befreiung, nicht durch Aufklärung.

Wie vergeblich es ist, Dummheit mit einem aufgeklärten Geist zu überwinden, zeigen auch die fünf Grundprinzipien der Dummheit, die der italienische Historiker Carlo Cipolla in der kurzen Denkschrift zusammenfasste „The Basic Laws of Human Stupidity“:
1. Die „Klugen“, „Aufgeklärten“ unterschätzen in der Regel die Zahl der „dummen“ Individuen. Es gibt mehr von ihnen, als sie es für möglich halten.

2. „Dummheit“ steht nicht notwendig mit anderen Eigenschaften eines Menschen (bzw. einem Mangel daran) in Verbindung. Jeder ungeachtet seiner Voraussetzungen kann „dumm“ sein. Das stimmt mit Bonhoeffers Erfahrung überein, dass Gebildete zu „dummen“ Entscheidungen fähig sind.

3. Cipolla definiert „Dummheit“ als ein Verhalten, dass anderen Schaden zufügt, ohne selbst irgendeinen Gewinn davonzutragen.

4. Das vierte Prinzip ist eine Erweiterung des ersten: „Kluge“ unterschätzen nicht nur die Zahl der „Dummen“, sondern auch die Wirkung des Klugseins auf diese Menschen. Fakten und Einsichten richten nichts aus. Bonhoeffer war hier realistischer. Er verstand, dass Verstand und Aufklärung auf „dumme“ Menschen keinen Effekt haben

5. Was den letzten Punkt betrifft, herrscht wiederum Übereinkunft zwischen Bonhoeffer und Cipolla: „Dumme“ sind durchweg gefährlich. Sie sind weder durch Überlegung noch durch Kompromiss noch durch irgendeine Form von Verständnis und Verständigung erreichbar.

Bonhoeffer und Cipollas Ausführungen über die Dummheit sind zugegebenermaßen nicht gerade motivierend; zumal sie von den Erfahrungen der letzten Jahre bestätigt werden. Ist denn gegen Dummheit kein Kraut gewachsen? Ich denke doch. Bonhoeffer sieht als einziges Mittel, sich der Dummheit entgegenzustellen, die Freiheit. Für ihn, der in einer Diktatur lebte, war Freiheit kostbar. Sie hat diesen Wert indes nicht verloren, nur weil wir heute in einer Demokratie leben und sie selbstverständlich ist. Man kann heute freimütig und auf vielerlei Weise den populistischen Schlagworten der Dummheit widersprechen und ihr eine klare Grenze setzen. Mag es gegen die „dummen“ Menschen, deren Zahl unbekannt ist, nichts ausrichten, so ermutigt es doch diejenigen an, die „klug“ sein wollen – ihre Zahl ist ebenfalls unbekannt und vermutlich auch höher, als man denkt.

Literatur:

Dietrich Bonhoeffer: Theologische Briefe aus ‚Widerstand und Ergebung‘, GTCh 2, Leipzig 2017.

Ders., Widerstand und Ergebung, Gütersloh 2005.

Carlo M. Cipolla: The Basic Laws of Human Stupidity, London 2019.

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